Sehen Sie die Geschichte von Jules Schelvis in 6 Minuten

Der Amsterdamer Jules Schelvis und seine Frau Rachel gelangen über Westerbork nach Sobibor. Hier wird Jules einer Gruppe von ‘Arbeitsjuden’ zugeteilt und macht eine Tour durch viele Arbeitslager und Ghettos. Einmal gelingt es ihm, einen Brief an eine nicht-jüdische Tante in Amsterdam abzuschicken, in dem er wegen der Zensur nur durch die Blume zu erzählen versucht, dass die anderen tot sind.

Jules 4 Milly 6

Jules (4) und Milly (6)

Jules Schelvis wird am 7. Januar 1921 in Amsterdam, an der Rapenburg, mitten im so genannten jüdischen Viertel, geboren. Er hat eine ältere Schwester, Milly. Sein Vater ist Diamantsäger. Nach der Oberrealschule beginnt Jules eine Ausbildung als Drucker.

Jules kommt aus einer nicht-religiösen, politisch bewussten Familie. Zu Hause ist man sehr gut informiert über die Lage in Deutschland. Aber, dass die Nazis tatsächlich die Juden ausrotten wollen, das glauben sie nicht.

Am Abend des 14. Mai 1940 kommen Jules und Rachel Borzykowski, eine Tochter von polnisch-jüdischen Immigranten, zusammen. Die Eltern von Rachel sind 1919 vor dem Antisemitismus aus Polen geflüchtet. Die Atmosphäre bei diesen zu Hause gefällt Jules sehr: es gibt viele Kontakte zu osteuropäischen Juden und sie sind Mitglieder des jüdischen Kulturvereins Sjolom An-Ski.

Jules ondertrouw

Rachel und Jules

Razzia

Mit knapper Not sind Jules und Rachel der ersten Razzia nach dem Februarstreik 1941 entkommen. Sie entscheiden sich, so schnell wie möglich zu heiraten, damit Rachel die niederländische Staatsangehörigkeit bekommt. Das gibt mehr Sicherheit. Sie heiraten am 18. Dezember 1941 und ziehen bei Rachels Großeltern in der Manegestraat ein.

Am 26. Mai 1943 wird das jüdische Viertel in Amsterdam abgesperrt. Die Nazis durchsuchen alle Häuser auf der Suche nach Juden, die noch nicht auf Transport sind. Sie finden u.a. Jules Schelvis, seine Frau und seine Schwiegerfamilie.

Westerbork

Jules gitaar

Vom Sammelpunkt Muiderpoortstation geht der Transport nach Westerbork. Jules hat seine Gitarre mitgenommen, er denkt, dass er abends an einem Lagerfeuer Musik machen kann. Niemand weiß, was passieren wird.

Kaart drukkerij Lindenbaum 27-5-1943 1

Kaart Lindenbaum achterkant27-5-1943

Jules wirft eine Karte an seinen Arbeitgeber Druckerei Lindenbaum aus dem Zug nach Westerbork.
Ihr lieben Alle,
diese Karte aus dem Zug nach Westerbork. Alles O.K.
Chel und Jules Schelvis

Lager Westerbork ist übervoll. Ein paar Tage nach Ankunft werden sie schon weitergeschickt. Die Reise im Viehwaggon dauert drei Tage und drei Nächte. Jules denkt, dass sie nach Auschwitz fahren – dieser Name ist bekannt.

Sobibor

Rachel

Jules und seine Frau kommen nicht in Auschwitz, sondern in Sobibor an, einem völlig unbekannten Ort. Noch immer gehen sie von einem Arbeitslager aus. Die Baracken sehen bei Ankunft nicht unfreundlich aus. Sogenannte Arbeitsjuden holen sie grob aus dem Zug, danach müssen sie alles, was sie besitzen, in einer Baracke zurücklassen. Rachel versteckt ihre Uhr noch schnell im Sand. Im Chaos realisiert sich Jules nicht, dass Männer und Frauen getrennt werden. Er will noch zurückschauen, aber das ist nicht erlaubt.

Als kurze Zeit später junge starke Männer ausgewählt werden, sorgt Jules dafür, dass er auch dazu gehört. Er ist Nummer 81 und sieht, wie die übrigen Menschen etwas weiter weg auf dem Feld sitzen. Sie müssen ihre Kleider ausziehen, was Jules logisch erscheint: nach so viel Zeit im stinkenden Waggon wird das Badehaus folgen. Zeit, sich zu verabschieden gibt es nicht, aber er denkt, dass er sie am Abend wieder sieht.

Dorohucza

Die Gruppe von 81 Männern wird in das Arbeitslager Dorohucza gebracht. Einer von ihnen ist Ab Stodel, ein Schwager von Jules. Zu Jules großer Freude ist auch einer seiner besten Freunde, Leo de Vries, unter ihnen. In Dorohucza müssen sie Torf stechen, unter sehr schlechten Bedingungen. Von den polnischen Juden im Lager hört Jules, was wirklich in Sobibor passiert. Ihm wird jetzt klar, dass alle, die in Sobibor zurückgeblieben sind, tot sind.

In Dorohucza bekommt Jules die Chance, sich einer Gruppe von Druckern anzuschließen. Er sieht es als Ausweg aus dem schrecklichen Torfstecherlager und überzeugt die anderen Niederländer mitzukommen. Ab Stodel entscheidet zu bleiben.

Radom

Jules landet mit der Gruppe von Druckern in Lublin. Von hier aus kommt er im Ghetto von Radom. Jules findet es dort auffällig ruhig. Das Ghetto besteht aus nicht mehr als vier Straßen; dort wohnen nur noch dreitausend Menschen – zum Arbeiten. Der Rest wurde bereits deportiert.

Jules läuft mit einer Gruppe von Schicksalsgenossen immer vom Ghetto zur Druckerei und zurück. Ein Briefkasten unterwegs bringt ihn auf die Idee, an seine Familie zu schreiben.

Wie soll Jules den Brief in den Briefkasten bekommen? Es ist der in Kolonne marschierenden Gruppe verboten, den Gehsteig zu betreten. Jules fasst den Entschluss, es zu wagen. Er kann als Absender nicht seinen eigenen Namen und seine Adresse im Ghetto benutzen und wählt den nicht spezifisch jüdischen Familiennamen seiner Frau und einen willkürlichen Straßennamen. Er adressiert den Brief an seinen Onkel Izak (Ies) und Tante Annie. Seine Tante ist nicht jüdisch und eine gebürtige Deutsche – eine Reichsdeutsche – und Jules nimmt deshalb an, dass sie noch an der Nieuwe Prinsengracht in Amsterdam wohnen wird.

Enveloppe Radom

Jules kann nicht schreiben, dass fast jeder nach Ankunft in Sobibor vergast worden ist, denn ein Brief mit solchem Inhalt würde nie die Zensur passieren und würde den Adressaten in große Schwierigkeiten bringen. Er entscheidet, sich für einen ‘normalen’ Arbeiter auszugeben.

Brief Radom Print-LM
Mit mir geht es nog immer gut. Ich bin sehr neugierig, wie es geht mit Ab, Hella, Herman, Chel und Ihre Eltern. (…) Ist vielleicht etwas mit diese Leute passiert?

Mit dem Nennen der Namen seiner Frau und Schwiegerfamilie gibt er an, dass die Familie auseinander gefallen und der Kontakt mit ihnen verloren gegangen ist. Er traut sich nicht, deutlicher zu schreiben. Nach einigen Tagen ergibt sich die Gelegenheit, den Brief einzuwerfen. Der Brief wird schon bald zugestellt und Onkel und Tante nehmen sofort Kontakt auf mit den erfreuten Eltern von Jules. Der Zensor hatte den Brief zwar abgestempelt, aber nicht geöffnet. Später fragt Jules sich, ob er mit einem weniger vorsichtigen Brief die Menschen in den Niederlanden hätte alarmieren können und zu mehr Widerstand gegen die Deportationen hätte anspornen können.

Todesmarch

Jules muss von Radom aus auf einen Todesmarsch von vier Tagen nach Tomaszow. Dort wird die Gruppe auf den Zug nach Auschwitz gesetzt. Jules fragt sich, was jetzt mit ihm geschehen wird. Sie bleiben aber nicht in Auschwitz, sie werden sofort nach Süddeutschland weitergeschickt: eine lange Zugfahrt in einem Viehwaggon nach Vaihingen an der Enz.

Vaihingen an der Enz

In Vaihingen an der Enz muss Jules am Bau einer unterirdischen Flugzeughalle arbeiten. Er schleppt Säcke Zement von 50 Kilo. Im Herbst 1944 wird der Bau eingestellt. Das macht das Lagerleben sofort weniger schlecht. Vaihingen wird jetzt ein so genanntes Erholungslager. Hier werden die Kranken aus anderen Lagern untergebracht. Die nicht kranken Juden, worunter Jules, müssen ins Lager Unterriexingen. Hier sind die Verhältnisse wieder viel schlechter. Jules’ Freund Leo ist der Erschöpfung nahe.

Dann muss auch Lager Unterriexingen geräumt werden, denn die Alliierten kommen näher. Jules hat eine Wunde am Fuß und darf nach Vaihingen zurück. Er versucht, Leo mitzubekommen, aber das gelingt nicht. Leo muss in ein anderes Lager (Kochendorf) und stirbt auf einen Todesmarsch nach Dachau, in den letzten Kriegstagen.

Jules erholt sich in Vaihingen und arbeitet hier als Krankenpfleger. Aber der Typhus ist überall und Jules wird angesteckt.

Befreiung

Jules liegt mit Typhus auf der Krankenabteilung im Lager Vaihingen an der Enz. Es ist der 7. April 1945; französische Soldaten befreien das Lager. Jules wird zum örtlichen Krankenhaus gebracht. Ihm wird beim Duschen geholfen. Den kleinen Spiegel mit dem Foto von Rachel, den er zwei Jahre lang mit sich getragen hat, verliert er dabei. Sobald er sich erholt hat, fängt Jules sofort an zu schreiben. Über alles, was ihm die letzten Jahre widerfahren ist.

Zwei Monate später kann Jules endlich nach Amsterdam zurück. Er geht zur Nieuwe Prinsengracht, zu seiner Tante Annie. Sie kann fast nicht glauben, dass er es ist, der unten an der Treppe steht. Jules geht davon aus, dass er der einzige Rückkehrer seiner Familie ist. In Polen ist ihm klar geworden, wie gering die Überlebenschancen sind.

Dann hört er völlig unerwartet, dass seine Mutter und Schwester noch leben. Sie sind in Schweden, in einem Auffanglager vom Roten Kreuz, nachdem sie in Bergen-Belsen waren.

Telegram Jules juli 1945 1Jules schickt sofort einen Brief und bekommt ein Telegramm zurück, gefolgt von einer eng beschriebenen Postkarte. Mutter und Schwester Milly kommen per Flugzeug in die Niederlande und sie ziehen zu dritt in ein einziges Zimmer. In ihrem alten Haus wohnen andere Leute. Jules wird wieder bei der Druckerei arbeiten. Vater kehrt nicht zurück, er ist in Sachsenhausen gestorben. Rachel und ihre Eltern sind in Sobibor ermordet worden.

Milly kaart uit Zweden

Milly kaart 28071945

Göteborg, den 28. Juli 1945
Mein allerliebstes Brüderchen,
Wir waren so unglaublich froh und glücklich mit deinem Telegramm. Ach Schatz, wir sind so unglaublich froh, dass du lebst. Mutter war halb verrückt, als sie dein Telegramm las. Pa war bis Dezember ´44 bei uns. Wir drei waren vom 29.9.43 bis 20.5.44 in Bergen-Belsen, wo es uns ziemlich gut ging, weil wir nicht arbeiten mussten. Dann wurde Pa plötzlich weggeschickt, wohin wissen wir nicht. Wir haben noch eine Hoffnung, dass er in Odessa ist. (…)
Wir sind drei Wochen in Viehwaggons herumgeirrt, es war entsetzlich und unterwegs sind sehr viele Frauen gestorben. Mutter war so tapfer, wir waren eine große Stütze für einander. Am ersten Mai, diesem schönen hellen Tag, wurden wir vom Roten Kreuz übernommen und am dritten Mai kamen wir in Schweden an, von der Hölle in den Himmel, total ausgehungert und voller Läuse. Mutter wog nur noch 81 und ich 98 Pfund. Aber wir sind jetzt wieder wie früher. Mutter 115 und ich 129 Pfund. (…)
© Fotos und Briefe aus Radom und Schweden: Privatarchiv Jules Schelvis


In der Ausstellung wird die Geschichte von Jules Schelvis erzählt von der Schriftstellerin und Filmemacherin Natascha van Weezel (Amsterdam, 02-08-1986) und Jules Schelvis (1921-2016)

Szenario und Richtung: Alex Bakker
Kamera: Bernd Wouthuysen
Editing audiovisuell: Erik Willems, JOB Producties
Produktionsmanagement: Mirjam Huffener
Standortaufnahme mit Natascha van Weezel: Liberaal Joodse Gemeente in Amsterdam, August 2015